Eine Spitalärztin auf Visite im Seniorenpark
Text: Daniel Göring, Foto: Tino Kistler
Anita Stauffer sitzt in ihrem Büro am Computer und bereitet eine Präsentation über Untersuchungen mit Ultraschall vor. Sie wird das Dokument an einem Weiterbildungskurs für Assistenzärztinnen und -ärzte einsetzen. Anita Stauffer ist leitende Ärztin in Nierenkunde (Nephrologie) am Spital Interlaken und erfahren im Einsatz von Ultraschall. Ein Anruf reisst sie aus ihren Überlegungen. Im Seniorenpark Weissenau hat sich ein Bewohner eine blutende Wunde am Schienbein zugezogen. Anita Stauffer sperrt den Computer und begibt sich kurzerhand in das benachbarte Zentrum für betagte Menschen. Neben den oben erwähnten Aufgaben hat sie dort die Funktion als Heimärztin inne
Wenige Minuten später steht sie im Zimmer von Franz Niklaus (Name geändert). Der knapp 80-Jährige sitzt im Rollstuhl und hat beim Manövrieren den rechten Unterschenkel heftig am Bettgestell angeschlagen. Die Platzwunde blutet stark. Nach erfolgter Erstversorgung durch die Pflegenden beurteilt Anita Stauffer, ob die offene Stelle genäht werden muss. Sie kommt zum gegenteiligen Schluss, desinfiziert die Wunde und verbindet sie mit einem Pflaster sowie einem schützenden Verband.

Anita Stauffer ist jeweils innerhalb weniger Minuten im Zimmer der Patienten.
Die Tablette, die sie ihm danach reicht, soll Franz Niklaus von den Schmerzen befreien. Er trägt das Malheur mit Fassung: «Immer noch besser als letztes Mal, als ich mit dem Rollator gestürzt bin und mir das Handgelenk verstaucht habe.» Anita Stauffer pflichtet ihm bei, trägt ihm aber trotzdem auf, etwas vorsichtiger mit dem Rollstuhl zu fahren. Die Bewegungsfreiheit, die er durch diesem gewinnt, bedeutet im Alter auch eine Verletzungsgefahr.
Wegen vielerlei gerufen
Einsätze wie dieser prägen den Alltag der Heimärztin. «Wir werden wegen vielerlei Dinge gerufen», erklärt Anita Stauffer und spannt den Bogen der Ursachen von Stürzen über Probleme beim Stuhlen bis hin zu eingewachsenen Zehennägeln und Infekten. Das «Wir» macht deutlich, dass sie die Aufgabe nicht allein bewältigen muss. Nebst ihrem Kollegen Otto Maurer unterstützten sie eine Assistenzärztin respektive ein Assistenzarzt, die sich alle sechs Monate ablösen. Zudem kann das Trio bei Bedarf auf die Dienste der Psychiatrie im Spital zurückgreifen, und Pflegeexpertinnen kümmern sich um spezielle Bedürfnisse der Bewohnenden.
Neben den ungeplanten Visiten und Notfällen führen Anita Stauffer und ihr Team einmal wöchentlich Besprechungen mit der Pflege im Seniorenpark durch und Visiten auf einer der drei Abteilungen. Das heisst, jede Heimbewohnerin und jeder Heimbewohner erhält mindestens alle drei Wochen eine Ärztin oder einen Arzt zu sehen. «Damit können wir die gesundheitliche Grundversorgung der Menschen sicherstellen», erläutert Anita Stauffer. Wichtig ist ihr zu betonen, dass die Bewohnenden des Seniorenparks nicht alle krank sind, sondern in der Mehrheit altersspezifische medizinische Probleme haben wie Diabetes, Bluthochdruck, Arthrose oder Osteoporose, um einige Beispiele zu nennen.

Zusätzlich zu Ihrer Tätigkeit als leitende Ärztin in der Nierenkunde am Spital Interlaken ist Anita Stauffer Heimärztin im Seniorenpark Weissenau
«Wir sind ganz nah bei den Bewohnerinnen un Bewohnern des Seniorenparks.»
Nähe zum Spital ein Riesennutzen
«Wir sind ganz nah bei den Bewohnerinnen und Bewohnern», fasst Anita Stauffer den Vorteil zusammen, dass das Spital Interlaken den ärztlichen Dienst im Seniorenzentrum Weissenau versieht. Die Nähe ist dabei im doppelten Sinn gemeint: Einerseits liegen die beiden Einrichtungen bloss einen Steinwurf respektive einen Kurzdistanzsprint auseinander, anderseits kennen die ärztlichen Fachpersonen die Klientinnen und Klienten durch die regelmässigen Visiten recht gut und können darauf basierend schnell entscheiden, welche Therapie oder Behandlung angezeigt ist.
Rita Schärli, Leiterin Pflege und Betreuung im Seniorenpark Weissenau, unterstreicht Anita Stauffers Aussagen: «Für uns ist es ein Riesennutzen, dass wir rund um die Uhr eine Ärztin oder einen Arzt erreichen können». Denn wenn Anita Stauffer und ihre Assistenzperson Feierabend haben, eilt in dringenden Fällen eine ärztliche Fachperson aus dem Notfall des Spitals in den Seniorenpark. Die Möglichkeit, leichtere Fälle direkt im Zimmer der Bewohnenden zu behandeln, stellt laut Rita Schärli ein weiterer Pluspunkt dar. «Wir müssen die Seniorinnen und Senioren nicht wegen jeder Behandlung oder Untersuchung aus ihrem Umfeld herausreissen, was für sie immer mit grossem Stress verbunden ist.»
Wie viel Behandlung ist angezeigt?
Als Herausforderung empfindet Anita Stauffer, dass sie als Heimärztin immer wieder vor der Frage steht, wie viel Aufwand für eine betagte Person angezeigt ist, wie viele Untersuchungen und wie viele neue Medikamente überhaupt Sinn machen. «Den Menschen in einem Seniorenheim soll es so gut wie immer möglich gehen. Aber es ist eine Tatsache, dass sie sich auf der abschliessenden Strecke ihres Leben befinden, und diese soll so selbstbestimmt wie möglich sein.» Will heissen: Bisweilen wünschen Patientinnen und Patienten gar keine umfangreichen Therapien mehr oder Angehörige entscheiden sich für eine Behandlung, die durch lindernde Massnahmen grösstmöglichen Komfort bringen soll.
Erfrischend empfindet es Anita Stauffer, wenn die Begegnungen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von Humor geprägt sind. Mit Franz Niklaus, der früher als Landwirt arbeitete, kommt Anita Stauffer auf die Tiere zu sprechen, während sie ihm den Verband anlegt. Anlass bieten ihr die Bilder von Kühen, welche die Wände seines Zimmers schmücken. Als ihm die Ärztin erzählt, dass sie zu Hause Hühner hält, lacht der alte Mann auf und meint: «Verglichen mit einer Kuh sind mir Hühner viel zu nervös.»
«Medizin in Reinform»
Für Anita Stauffer ist die Rolle der Heimärztin nicht einfach eine zusätzliche, die sie so nebenbei wahrnimmt. Ihr liegt die Aufgabe am Herzen, das kommt im Gespräch deutlich zum Ausdruck: «Für mich ist es Medizin in Reinform, wenn ich Menschen, die nicht mehr ihre ganze Selbständigkeit haben, auf ihrem letzten Lebensweg in gesundheitlicher Hinsicht begleiten kann.»
Frutigen: dankbar für Nähe zum Spital
Auch der Seniorenpark Frutigen setzt für seine Bewohnerinnen und Bewohner auf die Dienste der Ärzteschaft im Spital. Der Chefarzt, ein Facharzt Medizin und ein leitender Arzt teilen sich die Dienste auf den drei Wohngruppen im Seniorenpark. Zusammen mit Assistenzärztinnen und -ärzten stellen sie zum einen die wöchentlichen Visiten sicher, zum anderen im Bedarfsfall angezeigte Untersuchungen und Behandlungen.
Für Marie-Rose Barben, Leiterin Pflege und Betreuung, bietet der Umstand, dass sich beide Institutionen unter einem Dach befinden, «kurze und schnelle Wege sowie medizinische Unterstützung rund um die Uhr». Aber auch, dass Einrichtungen wie Röntgen, Labor, Physiotherapie und Apotheke im gleichen Gebäude seien, stelle ein wichtiger Vorteil dar. «Wir sind dankbar für die unmittelbare Nähe zum Spital, und auch die Angehörigen der Bewohnenden schätzen die medizinischen Dienstleistungen sehr», hält Marie-Rose Barben fest.

Zur Person
Anita Stauffer ist leitende Ärztin Nephrologie (Nierenkunde) im Spital Interlaken. Daneben fungiert sie als Heimärztin im Seniorenpark Weissenau, als Ausbildnerin für Assistenzärztinnen und -ärzte in der Ultraschalluntersuchung und als Personalärztin. Anita Stauffer ist verheiratet und Mutter zweier Jugendlicher. Sie wohnt mit ihrer Familie in Spiez, wo sie einen grossen Garten pflegt und drei Hühner hält. Neben diesen gehören auch eine Katze und ein Hamster zum Haushalt. In ihrer Freizeit lernt sie zudem Russisch und hat die Sprachkenntnisse am Rande auch schon im Spital einsetzen können.
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